Freitag, 19. Juni 2015

Der Ruf



In der Tiefe der Nacht suche ich einen festen Punkt, um mich aufzurichten.
Geschlagen und gemartert bin ich, jedes Gefühl in mir ist betäubt – ich nehme keinen Raum ein und habe keine Umrisse.
In meiner Welt glaubt jeder das Erdenleid auf seiner Seite – wenn ich also dem meinen einen Ausdruck verliehe, setzte ich nur einen weiteren Punkt in einer endlosen Geschichte. Gelindert wäre dadurch nichts. Ich schenkte einen Teil meiner Geißel dem opferbereiten Zuhörer, doch mein Herz erleichterte dies nicht. Die Welt wiegte genauso viel wie vorher und eine Änderung dessen, was ich Wirklichkeit nenne, wäre damit auch nicht herbeizuführen.
Es scheint mir beizeiten surreal, welche Welt wir uns aufgebaut haben. In der Theorie verstehen wir wohl, dass es so etwas wie die Wirklichkeit oder die Realität nicht geben kann. Ein jeder von uns hat seine eigene Sichtweise, sein eigen Verständnis dessen, was geschieht. Wir gebrauchen dieselben Begriffe, obwohl jeder von uns dem Gesagten eine andere Bedeutung zugrunde legt. Die Vorstellung, dass es einen Gott und so etwas wie einen Lebensplan für einen Menschen gäbe, mag für den Atheisten eine Absurdität sein. Und dennoch lebt er in derselben Welt, wie derjenige, für den diese Behauptung ein Fundament darstellt – beide glauben sie sich dieselbe Realität zu teilen. Wenn sie sich darüber unterhielten, was käme für beide raus? Es scheint paradox, wie sie sich in dem verweltlichten Wort „Realität“ vereint glauben, durch ihre Lebensanschauung getrennt sind – und in der Unendlichkeit des Universums dennoch eins.
Immer wieder kehre ich zu dem Punkt zurück, an dem meine Seele in ihrer eigenen Glückseligkeit flatterte – obwohl ich mich damals in derselben Realität befand wie heute.
Wie begierig ich mich der Kindheit entsinne. Was gäbe ich heute für diese Kraft des Gemüts, sich scheinbar grundlos zu bezaubern. Am Sonnenschein, am Schmetterling, an der Blume, dem Regen, dem Schnee, der Luft; dem Erwachen und dem Entschlafen, dem Werden und dem Vergehen. Wie sehne ich mich nach der Zeit, als mir jeder Gedanke an ein Vergnügen Kribbeln der hoffenden Vorfreude verursachte. Selige Jugend, ich gedenke deiner. Ich will an die Wiedergeburt glauben – nur um dir wieder zu begegnen. Jahre meiner weisen Ruhe würde ich hergeben für einige Stunden deiner hochgestimmten Entzückung. Nur die Erinnerung an dies holde Gefühl ist mir geblieben; sie vermag nicht mein Jammertal zu überqueren.
Ob ich in den Jahren meiner Glückseligkeit die Umrisse meines Wesens kannte? Ich weiß es nicht. Glück stellt keine Fragen.
Kurz vor der Dämmerung ist der Himmel am dunkelsten. Ich sehe die Sterne und weiß, dass sie die Antwort kennen. Ich will hören, was mir die Unendlichkeit zu sagen hat. Wer kann vernehmen, was ich in mir trage, wer ist mein Verbündeter in diesem Kreislauf des Aufrichtens und des Niederfalls, genannt Menschenleben? Wie immer, wenn ich strauchele, zerre ich an meinem Quell, ersuche es um Kraft und Weisheit – wenn ich auch nicht die Umrisse meines Wesens kenne, so weiß ich um den einen Ursprung, diesen einen nährenden Strang in meinem Leben. Ich ergreife ihn, ich drücke ihn an meine Brust und beginne, seine Kraft zu spüren. Womit verbindet er mich?
Rohe Kräfte schlummern in dem Urquell meiner Ahnen. Ich gewähre Einlass ihren Seelen und verbünde mich mit ihren Energien. Finster erheben sie ihre Häupter und begutachten, wer ihre ewige Ruhe zu stören gewagt. Ich knie nieder und reiche ihnen meine Seele – auf dass sie mir sagen mögen, wie ich ihr gerecht werde. Durch die Unendlichkeit hindurch sind wir verbunden und der Knoten dieser Verbindung schlägt in meiner Brust. Sie gestatten mir den Einblick. Geräuschlos öffnet sich die Dunkelheit und ich sehe sie, meine eine Verbündete in der Ewigkeit, die weiß, wie mir zumute. Sie kennt meine Weiten nur zu genau, denn auch sie misst keine Grenzen. Wie auch ich, lag sie oft in Schutt und Asche, hat ihre Vergangenheit verdrängt und sich um ihre Zukunft gebracht. Sie wurde geplündert und zerstört, aber sie war. Sie ist geächtet, aber sie ist.
Welchen Schmerz sie auch auszuhalten hatte – sich nährte sich damit, sich und ihre Kinder, die durch sie hindurch eine Wehmut wähnten, die bis zu den Anfängen reichte. Geheimnisvolle Seelen schuf sie, von der Welt gleichermaßen bewundert und verkannt. Wild und befremdlich schien sie den geschlossenen Reihen der Abendländer, die auf der Suche nach Reichtum kamen. Und sie fanden Reichtum vor, aber ein anderes, als sie gesucht. Unbeherrscht in ihrer Empfindung konnte sie weinen in Freude und lachen im Schmerz. So oft wurden ihre Grenzen wegradiert und neu gezeichnet, dass sie an Bedeutung verloren. Durch die Tiefe ihres Herzens hat sie ihre Kinder eine Leidensfähigkeit gelehrt, die Furcht und Bewunderung hervorrufen auf dieser Welt. Nichts macht ihr Angst und wenn eine neue Epoche sie in ihren Grundmauern erschüttert, lacht sie und feiert den nächst anfallenden Niedergang – denn der Niedergang hat ein Ende. Sie aber wird sein.
Zärtlich wiegt sie mich an ihrer Brust. Ich bin ein Teil von ihr, ein ferner, abgewandter zuweilen, ein verlorener. Doch ich kehre heim in meinem Herzen, ich will sie um Vergebung bitten für meine Abwendung und meine Fernweh. Was für ein Schicksal uns doch verbindet? In ihrem Schoße gebettet hat eine andere nach mir gerufen, und ich ging diese andere suchen, denn anders war meine Sehnsucht nicht zu stillen. Mein Gemüt erzog ich anders, eine andere Sprache nahm ich an, die Kultur, vielleicht auch die Art zu fühlen.
„So, wie es ist, ist es richtig“, – sagt mir mein Urquell – „es ist unser Schicksal einander aus der Ferne zu lieben. Selten schätzt der Mensch, was ihm vergönnt. Wie soll man die Größe eines Berges erfassen, wenn man sich auf der Spitze befindet? „[…] Auge in Aug‘ sieht man nicht das Gesicht; Aus der Entfernung nur sieht man das Wahre [...]“[1]. Dein großer Dichter wusste diese simple Wahrheit. Jetzt weißt auch du sie. In diesem Leben konnte ich nicht für dich sorgen; das Recht des Stärkeren plagt und peinigt mich. Du hast die andere gerufen, die dich auch erfüllt; nur kannst du es in diesem Augenblick nicht erfassen, da du auf der Spitze ihres Berges stehst. Deine Seele ist uns beiden verbunden und es ist dein Los, eine von uns stets missen zu müssen.
Deine Umrisse willst du finden? Wozu brauchst du sie? Mir hat man im Laufe der Jahrtausende so viele eingebrannt und sie schmerzen wie Narben. Niemand, den ich an meiner Brust gesäugt habe, denkt an meine Grenzen – er denkt an meine Weiten. Nicht in Umrisse sollst du dich einzwängen; in Grenzenlosigkeit sollst du dich ergehen! Sei so groß wie du nur kannst; widerstehe jeder Form, außer der, die dein Herz dir gerade vorgibt. …“
Geliebte Mutter, wenn du nur wüsstest, welche Realität ich mir geschaffen – wie soll ich es schaffen, all diese Größe in meiner schrankvollen Welt zu entfalten? Wie ein Adler im Käfig krümme ich mich – kein Raum ist da, meine Flügel zu entfalten. Nur die Erinnerung an weite Himmel ist geblieben.
„Nicht doch, mein Kind. Ist es schon alles, was du in mir wiederfindest? Die Grenzlosigkeit in Raum und Empfindung? Warum beschränkst du deine Kraft und legst dich selbst an die Kette? Wer so weit sein kann und so tief zu fühlen keine Angst kennt – ist dieser jemand denn nicht tapfer? Und ist Tapferkeit denn keine Tugend? Und Tugend nicht eine Stärke? Und ist Stärke nicht die Kraft? Ich sagte dir schon einmal, dass dein Käfig selbstgebaut ist; breite die Flügel aus und reiße ihn nieder!
Nur diesen einen festen Punkt in dir brauchst du, um dich aufzurichten. Du selbst bist dieser Punkt und ich in dir. Wie ich so stark sein konnte, willst du wissen? Unter allen Umständen mich befreien, auferstehen, sein – und groß sein, denn anders bin ich nicht? Ich konnte es durch meine Kinder. Zu jeder Zeit bin ich im Angesicht derer, die für meine Weiten ihr Leben der Ewigkeit zurückgeben – um von mir für das nächste Mal noch mehr Größe mit auf den Weg zu bekommen.
Denke an dich, mein fernes Kind. Wie bist du bis jetzt auferstanden, wenn es an der Zeit war? Doch nur, weil du wusstest, dass es an der Zeit war. Und woher kam deine Kraft, das Kreuz des Karmas zu tragen? Aus dem Verständnis, dass es sein muss – denn anders ist es nicht. Hast du dich noch nie gefragt, warum du das stets so gut konntest? Weil du in dir drin so grenzenlos bist, wie ich es dir zu sein scheine. Ich kann spüren, wann du mich brauchst; ich lebe in dir und erfülle deine Seele.
Wenn du kämpfst, bist du nicht allein – all meine Söhne, die vor dir gewesen, hallen in dir nach, was immer du tust. Meinen Segen hast du in der Ewigkeit, wie meine Liebe. Deine Ahnen sind der feste Punkt, den du suchst. Rufe sie, sie werden kommen. Frage sie, sie werden antworten. Lass dich fallen, sie werden dich tragen; haben es schon immer getan.“
Wie betäubt stehe ich da und sehe der Sonne beim Erwachen zu. Das Leben ist einfach; die Suche nach Glück, diesem Heiligen Gral einer jeden Existenz und die allwissenden Philosophen machen es kompliziert. Wir kommen auf diese Welt, um zu lieben und um unserem Herzen zu folgen. Das ist das Glück. Das ist der eine feste Punkt in dunkler Nacht. 

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