Montag, 17. August 2015

Iljas Welt #5



Vielleicht würde es Ilja nur dieses eine Mal gelingen, von seiner Freiheit Gebrauch zu machen? Nein, nein, keine Heldentat; es wäre fatal, die eigenen Kräfte derart zu überschätzen. Was aber, wenn er es schaffen würde, sich selbst die Wahrheit zu sagen? Ein kleiner Schritt, ein unmerklicher fast, denn außer Ilja selbst kannte niemand seine Wahrheit. Wie würde es seine Welt ändern, wenn er diese Wahrheit sich selbst in ihrer ganzen Deutlichkeit eingestehen würde? Bis jetzt hat er es sich noch nie erlaubt, die leidige, auf sein Gemüt drückende Wahrheit in Worte zu fassen; er kannte sie nur ungefähr, aus Magen- Kopf- und Spannungsschmerzen, aus Alpträumen und schweren Gemütszuständen.
Ilja machte sich einen kräftigen Tee, zündete eine Zigarette an und setzte sich in den Garten.
Wie sah sie aus? Wo sollte man anfangen, sie in Worte zu fassen? Wo hat alles seinen Anfang? Ilja lehnte sich zurück und nahm einen Schluck bitteren Tees. Der Mensch ist, dem Grunde nach, ein autonomes Wesen. Er ist es oder er kann es sein. Die Umgebung, in der ein Mensch lebt, sie verflicht ihn mit ihren Normen, Vorstellungen, mit ihren liebevollen und leisen Forderungen. Was für ein flexibler Antagonismus, der sich durch des Menschen Leben schleicht. Auf der einen Seite wird durch alle Fernrohre, welche die Menschheit sich hat einfallen lassen, an ihn herangetragen, wie frei, wie autonom und wie unabhängig die Menschen sein können. Im Grunde genommen, ist es so; theoretisch ist der Mensch frei. Ganz besonders gern glaubt sich der Mensch in der sogenannten Freien Welt frei. Das muss er auch, sonst wäre der Name albern und anmaßend. Wenn er es schaffen könnte, seine Entscheidungen allein aus Vernunftgründen zu treffen, wäre er frei – so postulierte es einst Immanuel Kant, Iljas großer Vordenker. Jedoch, wenn man auf der Suche nach der eigenen Freiheit zu den Anfängen, also in die Kindheit zurückkehrt, was findet man dort vor? Gewiss keine Vernunft. Das ist die Wurzel der Wahrheit und zugleich die des Übels. Als Kinder sind die Menschen nicht vernünftig und können deswegen nicht frei sein. Wie können dann die Menschen aus ihrer, in der Kindheit erlernten, Unfreiheit Vernunft lernen?
Ilja zog nervös an der Zigarette; war seine mutige Unternehmung schon gescheitert? Nein, so funktioniert Vernunft nicht. Sie kommt mit der Bildung und mit den Jahren. Nach und nach ist es dem Menschen möglich, die Fesseln, die er sich seit den Kindertagen hat anlegen lassen, abzuschälen, um sein wahres Wesen zu entdecken.
Vielleicht ist das ja der Grund für den ewigen Generationenkonflikt, für die Rebellion der Jugend gegen die Autorität der Erwachsenen? In ihrer Pubertät entdecken junge Menschen ihre Vernunft und stellen fest, dass sie sich fremden Vorstellungen gebeugt haben und dass die Illusion, das (für jemanden) Richtige zu tun, sie nicht länger glücklich macht. Warum hat Ilja nie rebelliert? Er dachte angestrengt nach. Das Bedürfnis, sich gegen jemanden oder etwas aufzulehnen, kam in ihm nie auf. Er hat nie rebelliert, weil er immer versucht hat, vernünftig zu sein. Alle seine emotionalen Stürme suchte der kleine Ilja mit dem zu beruhigen, was er als Kind für Vernunft hielt. Schicht um Schicht legten sie sich mit den Jahren um Iljas Herz und machten es schwer und fühlig. Frieden aus Erschöpfung ist besser als Krieg aus Überzeugung – er war zu müde, um die im Grab seiner tiefen Seele beigelegten Wirbelwinde wieder zu beleben. Andererseits wusste er jeden einzelnen derselben beim Namen zu nennen; konnte spüren, wie sie ihn riefen und hallten und heulten, wie eingesperrte Wildhunde. Ilja drückte die Zigarette aus. Kämpfen oder schlichten? Die schattige Wahrheit bäumte sich auf. Die Vernunft ward erwachsen. …

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